Mehrsprachig durch den Familienalltag

Adeline Hurmaci ist promovierte Kulturwissenschaftlerin, Coach und Trainerin für frühkindliche Mehrsprachigkeit und Mutter von 2 Söhnen. Gemeinsam mit ihrem Mann erzieht sie ihre Kinder mehrsprachig. Im Gespräch erzählt sie, wie sie gestartet haben, warum Kinder manchmal eine Sprache ablehnen und weshalb Eltern dabei Geduld, Gelassenheit, einen bewussten Umgang und gezielte Strategien brauchen. 

Mehrsprachig durch den Familienalltag

Mehrsprachigkeit gehört für viele Familien zum Alltag. Gleichzeitig bringt sie Fragen, Unsicherheiten und immer wieder neue Situationen mit sich: Welche Sprache sprechen wir wann? Was tun wir, wenn ein Kind eine Sprache ablehnt? Und wie finden Eltern eine Struktur, die zu ihrem Leben passt?

Dr. Adeline Hurmaci gibt einen Einblick in typische Herausforderungen und hilfreiche Tipps für den Familienalltag.

 

Du selbst bist Französin, dein Mann Deutsch-Türke. War für euch sofort klar, dass ihr eure Sprachen weitergeben wollt?

Als unser erster Sohn unterwegs war, stand fest: Wir möchten unsere Muttersprachen weitergeben. Sie sind ein wichtiger Teil unserer Familien und unserer Identität. Meine Familie etwa spricht ausschließlich Französisch und ein Teil der Familie meines Mannes nur Türkisch. Ohne diese Sprachen wäre der Kontakt sehr begrenzt.

 

Wie habt ihr begonnen?

Wie die meisten: erst einmal irgendwie. Es gibt verschiedene Modelle der Mehrsprachigkeit. Wir haben uns für OPOL entschieden: One Parent, One Language. Ich spreche mit unserem Sohn Französisch, mein Mann Türkisch. Untereinander reden wir Deutsch.

 

Und wie lief das?

Zunächst gut. Wir mussten uns natürlich umstellen, denn vorher sprachen wir zu Hause fast ausschließlich Deutsch. Mit Kind war Deutsch plötzlich kaum noch präsent. Als unser Sohn in die Kita kam, änderte sich das wieder. Mit etwa 2,5 Jahren wollte er dann nur noch Deutsch sprechen und lehnte die anderen Sprachen ab – ein Punkt, an den viele mehrsprachige Familien ankommen. Kinder bevorzugen dann häufig die Landessprache, während die anderen Sprachen passiv bleiben oder ganz verweigert werden.

 

Was bedeutet „passiv bleiben“?

Wenn Kinder eine Sprache ablehnen, verweigern sie sie vollständig: Sie sagen explizit, sie möchten die Sprache nicht sprechen und oft auch nicht hören. Eine passive Sprache dagegen nehmen sie weiterhin an, verstehen sie weiterhin, sprechen sie aber nicht mehr selbst.

 

Welche Folgen hat das?

Eine Sprache, die nicht aktiv genutzt wird, entwickelt sich nicht weiter. Komplexere Themen können dann irgendwann nicht mehr gut verstanden werden. Wenn Eltern daraufhin in die Landessprache wechseln, verliert die andere Sprache an Bedeutung und rückt nach und nach in den Hintergrund.

 

Warum bleiben Sprachen manchmal passiv?

Mit etwa 2,5 Jahren begreifen Kinder das Konzept „Sprache“. Sie können verschiedene Sprachen bewusst unterscheiden. Die Sprache, die in ihrem Umfeld und ihrem Alltag stark präsent ist, fällt ihnen leichter. Die anderen Sprachen wirken dann anstrengender oder weniger relevant. Manchmal haben Kinder auch negative Erlebnisse, etwa wenn jemand streng sagt: „Hier sprechen wir aber nur Deutsch!“ Solche Erfahrungen können Ablehnung auslösen.

 

Was rätst du Eltern in dieser Situation?

Im Wesentlichen drei Dinge:

Erstens: Nicht persönlich nehmen. Das ist schwer, denn das Kind lehnt ja die eigene Muttersprache ab, also einen Teil der eigenen Identität. Aber das Kind richtet sich damit nicht gegen die Eltern, sondern sucht Sicherheit. Es fühlt sich in dieser Sprache nicht sicher genug.

Zweitens: Mit dem Kind ins Gespräch gehen. Ab etwa 3 Jahren kann man vorsichtig Ursachenforschung betreiben: Gab es negative Erfahrungen? Warum fühlt sich die Sprache fremd an?

Und drittens: Die Sprache mit Freude zurückholen. Kleine Situationen, die gut zur Familie passen, helfen: gemeinsame Rituale, Lieder oder vertraute Spiele.

 

Wann ist der beste Zeitpunkt, um mit mehreren Sprachen zu beginnen?

Wenn mehrere Sprachen innerhalb der Familie weitergegeben werden sollen: Dann am besten ab Geburt. Früher galt die Empfehlung, erst eine Sprache zu festigen, bevor man eine weitere einführt: Das ist überholt. Direkt von Anfang an ist ideal, weil die Familie im ersten Jahr Zeit hat, sich daran zu gewöhnen.  Die Nicht-Landessprache sollte auf jeden Fall so früh wie möglich intensiv mit dem Kind gesprochen werden, um ihr überhaupt eine Chance zu geben. 

 

Ist das für Familien ein großer Umbruch?

Ja, oft schon. Viele müssen sich erst einspielen. Plötzlich sind die Sprachen, die mit dem Kind gesprochen werden, viel präsenter im Alltag. Diese Umstellung darf Zeit brauchen. Gleichzeitig bleibt Raum, um den eigenen Wortschatz zu erweitern oder Unsicherheiten zu überwinden.

 

Kann man auch später beginnen?

Das geht, ist aber viel aufwendiger. Ältere Kinder lassen sich schwerer motivieren und brauchen meist Unterstützung, um die neue Sprache anzunehmen. Der Prozess wird deutlich komplexer.

 

Viele Eltern befürchten, mehrere Sprachen würden Kinder verwirren. Stimmt das?

Nein. Das ist ein Vorurteil. Kinder kommen mit mehreren Sprachen sehr gut zurecht. Sehr hilfreich und empfehlenswert ist aber, dass eine klare Struktur in der Anwendung der Sprachen herrscht, etwa über feste Personen oder Situationen, in denen eine bestimmte Sprache gesprochen wird.

 

Welche Strategien gibt es?

Neben „One Parent, One Language“ gibt es zum Beispiel das Modell „Family language - environment language“. Die Wahl hängt von der Familiensituation ab. Entscheidend ist, dass die Struktur klar bleibt. Wenn Sprachen durch die Bezugspersonen stark gemischt werden, verwirrt das Kinder zwar nicht, erleichtert den Spracherwerbsprozess aber auch nicht.

 

Fangen mehrsprachige Kinder später an zu sprechen?

Das ist ein weit verbreiteter Mythos. Auch bei mehrsprachigen Kindern gilt: Bis zum zweiten Geburtstag sollten sie etwa 50 Wörter (alle Sprachen mitgerechnet) bilden. Sagt ein Kind „Wasser“ und „water“, zählt das als zwei Wörter. Wenn Kinder auffällig wenig sprechen, sollten Eltern mögliche Ursachen – etwa Hörprobleme – unbedingt abklären lassen.

 

Wie wichtig ist der Kontakt zur Nicht-Landessprache außerhalb der Familie?

Das variiert. Eine Sprache muss für das Kind relevant sein, also von Bedeutung. Spricht ein Elternteil nur diese Sprache, ist sie automatisch bedeutsam. Wenn aber alle auch die Landessprache gut beherrschen, sinkt ihre Relevanz. Durch Verwandte, Freunde oder Rituale kann man diese Bedeutung stärken.

 

Welche Rolle spielen Kita und soziales Umfeld?

Eine große. Wenn zu Hause nicht die Landessprache gesprochen wird, empfehle ich den Kita-Einstieg mit spätestens 2 Jahren. Kinder vergleichen sich früh mit anderen. Wenn sie merken, dass sie etwas noch nicht können, kann das verunsichern.

 

Lernen Kinder die Landessprache in der Kita nicht automatisch?

Nicht unbedingt, da spielen viele Faktoren eine Rolle, wie etwa das Alter des Kindes, seine Entwicklung in der Erstsprache und wie die Situation in der Einrichtung ist. Wenn viele Kinder in der Gruppe dieselbe Nicht-Landessprache sprechen, erschwert das das Lernen. Fachkräfte müssten Kinder dann gezielt im Alltag fördern. Das ist aufgrund der Rahmenbedingungen, etwa einem schlechten Betreuungsschlüssel, oft schwierig.

 

Müssen Eltern unbedingt ihre Muttersprache mit dem Kind sprechen?

Nicht zwingend. Wichtig ist, dass sie in der Sprache sehr sicher und authentisch sind. Sprache darf keine Barriere werden. Manche Eltern sprechen mit ihren Kindern eine Sprache, die sie auf muttersprachlichem Niveau beherrschen, auch wenn es nicht ihre Erstsprache ist. Entscheidend ist: Fühlt sich die Kommunikation natürlich und authentisch an und kann ich in dieser Sprache alles ausdrücken, was ich ausdrücken möchte

 

Kann die Muttersprache manchmal zur Hürde werden?

Ja, vor allem, wenn Eltern selbst mehrsprachig aufgewachsen sind und ihre Muttersprache überwiegend alltagssprachlich geprägt ist. Dann fehlen manchmal Begriffe für komplexere Themen. Aber auch das ist lösbar.

 

Wie können Eltern in so einem Fall vorgehen?

Sie können ihren Wortschatz gezielt erweitern. Besonders im ersten Jahr ist dafür Zeit. Wichtig ist, dass die Beziehung im Vordergrund bleibt. Sprache darf Beziehung und Kommunikation nicht behindern. Ich ermutige Eltern, ehrlich hinzuschauen: Fühlt sich diese Sprache gut an? Kann ich darin ganz ich selbst sein?

 

Ist es in Ordnung, zwischen Sprachen zu wechseln?

Natürlich. Auch Kinder tun das – das ist normal. Trotzdem gilt: Je mehr ich konsequent in der Anwendung meiner Sprache(n) bin, desto höher sind die Chancen, dass es mit der Mehrsprachigkeit klappt. 

 

Und wenn Eltern ihre Sprache nur teilweise weitergeben möchten?

Das ist völlig in Ordnung. Eine Sprache kann über Lieder, Reime oder bestimmte Situationen Teil des Alltags werden, ohne Hauptsprache zu sein. Kinder können später darauf aufbauen, wenn sie möchten.

 

Was rätst du Familien, die gerade überlegen, wie sie starten?

Sich Zeit zu nehmen und offen zu sprechen. Gerade wenn nur ein Elternteil eine andere Muttersprache hat, ist wichtig, dass der Partner/die Partnerin versteht: Warum ist mir das so wichtig? Nur, wenn beide an einem Strang ziehen, kann es funktionieren.

 

Teamarbeit ist also wichtig?

Sehr wichtig. Eltern sollten sich früh auf eine gemeinsame Strategie einigen: Was passt zu uns, zu unserem Umfeld, zu unserer Lebensrealität und zu unseren Zielen? Im ersten Jahr können sie ausprobieren, reflektieren, ihre Strategie anpassen. Es muss nicht alles perfekt sein. Eltern dürfen mit ihrem Kind wachsen.

 

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