
Sensible Babys: Wenn Reize schnell zu viel werden
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Regina Franz ist Mama von zwei sensiblen Kindern und Familienberaterin mit dem Schwerpunkt "Sensible und neurodivergente Kinder begleiten." In 1:1-Beratungen unterstützt sie Eltern feinfühlig in ihrem Alltag.
Sensible Babys: Wenn Reize schnell zu viel werden
Einige Babys reagieren schneller auf Geräusche, Berührungen oder Veränderungen im Tagesablauf. Sie wirken wacher, reizempfindlicher oder brauchen mehr Zeit, um sich an Neues zu gewöhnen. Für Eltern kann das verunsichernd oder herausfordernd sein – vor allem, wenn der Vergleich mit anderen Babys im Raum steht.
Im Gespräch mit Familienbegleiterin Regina Franz klären wir, was unter Sensibilität bei Babys verstanden wird, wie sich diese im Alltag zeigt und welche Wege Eltern finden können, um gut damit umzugehen.
Woran merken Eltern im Alltag, dass ihr Baby besonders sensibel ist?
In aller Regel stellen Eltern fest, dass ihr Baby anders zu ticken scheint als andere. Es ist vielleicht sehr wach, saugt Umgebungsreize auf wie ein Schwamm, findet schwer in den Schlaf oder wacht leicht auf. Sensible Babys nehmen alle Sinnesreize sehr intensiv wahr. Möglicherweise weinen sie zum Beispiel, wenn das Duschgel des Elternteils für sie zu stark duftet, lehnen bei der Beikost einige Lebensmittel aufgrund ihrer Konsistenz kategorisch ab oder fühlen sich in bestimmten Kleidungsstücken sehr unwohl, weil das Material oder ein Etikett für sie sehr stark kratzt.
Sensible Babys sind aber nicht automatisch Schreibabys, oder?
Ja, das ist richtig. Ebenso ist nicht jedes Schreibaby ein sensibles Baby. Schreien kann viele Gründe haben. Hier ist ein genaues Hingucken sehr wichtig. Trotzdem lässt es sich häufig beobachten, dass sensible Babys viel weinen und sich vielleicht auch nur schwer beruhigen lassen. Teilweise wird auch nur ein Elternteil gut akzeptiert und das Kind lässt sich nur von diesem beruhigen.
Eltern stellen sich bestimmt häufig die Frage, ob das Verhalten ihres Babys normal ist.
Sogar sehr häufig. Eltern können zum Teil fast verzweifeln, weil ihr Kind sie so fordert. Aber mir ist wichtig zu betonen: Eltern können nichts dafür, dass ihr Baby sensibel ist. Sie haben nichts „falsch“ gemacht. Diese Grundstrukturen sind angeboren. Familienexpertin Nora Imlau erklärt die angeboren Persönlichkeitsstrukturen wie folgt: Es gibt am einen Ende der Skala regulationsstarke Babys: Sie lassen sich gut beruhigen und finden leicht in den Schlaf. Am anderen Ende der Skala gibt es die gefühlsstarken Kinder, die sehr reizoffen und hochreaktiv sind. Zwischen diesen Punkten ist die Sensibilität ganz unterschiedlich ausgeprägt. Das Temperament ist ein Spektrum.
Gibt es dabei eine genetische Komponente?
Die gibt es! Viele sensible Babys entpuppen sich später als neurodivergent und werden zum Beispiel mit Hochbegabung, ADHS oder der Autismusspektrumsstörung diagnostiziert. Auch Mehrfachdiagnosen sind möglich. Ob ein Kind neurodivergent ist oder nicht, lässt sich jedoch so früh noch nicht feststellen. Eltern können die Beobachtungen erst einmal dokumentieren, damit diese später gegebenenfalls für eine umfassende und differenzierte Diagnostik verwendet werden können.
Welche typischen Auslöser im Alltag können dafür sorgen, dass sensible Babys anfangen zu weinen?
Häufig sind Übergänge ein Problem: aus dem Haus gehen, ein Spiel beenden, zum Wickeln gehen, mit dem Anziehen starten und auch in den Schlaf finden. Auch intensive Reize wie Gerüche oder starkes Hüpfen können das Baby überfordern. Wenn zu viel gleichzeitig auf das Kind einprasselt, kann das ebenfalls ein Overload an Reizen sein.
Du hast gesagt, dass starkes Hüpfen kontraproduktiv sein kann. Aber gerade das wird Eltern doch oft empfohlen? Mit großen Schritten auf und ab gehen oder auf dem Pezziball hüpfen.
Das stimmt. Das starke Hoch und Runter kann aber eine Reizüberflutung für sensible Babys sein und eine Schutzreaktion auslösen: Das Baby schläft zwar ein, aber es muss die Reize dann später verarbeiten und beginnt nach dem Aufwachen vielleicht zu weinen. Auch ein Gewöhnungseffekt ist möglich.
Was sollten Eltern stattdessen tun?
Sie sollten Co-Regulation bieten: Also dem Kind mit ihrer Ruhe helfen, sich wieder zu beruhigen. Dafür ist Nähe wichtig. Eine Trage oder ein Tragetuch kann helfen. Auch Stillen oder das Fläschchen können dem Kind helfen, herunterzukommen. Manchmal möchte das Kind aber auch einfach nur Begleitung.
Was heißt das? Sollten Eltern nicht versuchen, das Weinen zu beenden?
Das kommt darauf an. Wenn ein Kind zum Beispiel vor Hunger weint, dann sollten Eltern natürlich schnell auf dieses Bedürfnis reagieren. Auch bei einer Reizüberflutung können sie etwas tun. Aber manchmal scheint eigentlich alles zu passen: Das Kind ist satt und sauber, es ist kein Trubel drumherum. Und trotzdem weint das Baby. Dann ist es oft sinnvoll, dem Kind zu zeigen: Ich bin hier – du kannst jetzt alles rauslassen. Denn uns geht es ja oft genauso: Manchmal wollen wir uns einfach nur Luft machen und gar keine Lösung für unser Problem. Babys können das nicht artikulieren, sie können nur weinen. Und das tun sie dann eben, um Stress und Druck abzubauen. Da hilft oft nur: Dabei sein und halten.
Das ist für Eltern sicher auch oft schwierig.
Auf jeden Fall. Viele Eltern fragen sich auch, ob sie etwas sie falsch machen. Oft hören sie zusätzlich den Spruch: Entspannte Eltern, entspanntes Kind. Das suggeriert ja auch: Es liegt an dir, dass dein Kind „so“ ist. Dabei können Eltern oft einfach gar nicht richtig entspannen, weil es das Kind nicht zulässt.
Was kann Eltern denn in solchen Situationen helfen?
Generell gilt: Selbst- vor Co-Regulation. Babys haben feine Antennen und sind sehr feinfühlig für unsere Emotionen. Wenn Eltern super gestresst in eine Situation gehen, überträgt sich das sehr leicht auf das Kind. Eltern mit sensiblen Babys müssen sehr gut auf sich achten.
Und wie geht das?
Wesentliche Grundbedürfnisse sollten eine Prio sein: schlafen, essen, trinken. Häufig mangelt es schon daran, von Me-Time wollen wir da gar nicht sprechen. Ich rate Eltern zum Beispiel, vor der Einschlafbegleitung zu checken: Welche Bedürfnisse habe ich gerade? Muss ich auf die Toilette? Habe ich Hunger oder Durst? Dann sollte ich das erfüllen, bevor ich mich, vielleicht für Stunden, meinem Kind zuwende. Eltern können versuchen, wo es nur geht, etwas Regulationszeit und Me-Time zu integrieren: Mit einem Hörbuch auf den Ohren, wenn das Kind auf ihnen schläft, oder mit einer Sprachnachricht beim Spaziergang. Wenn das Kind nur mit Körperkontakt schläft, kann ein kleines Wohlfühlkörbchen für etwas Entspannung sorgen, auch wenn darin zum Beispiel nur eine kühlende Augenmaske oder eine Haarbürste liegt.
Du hattest vorhin gesagt, dass die Reizoffenheit bei Babys oft genetisch bedingt ist.
So ist es. Und gerade, wenn auch die Eltern selbst sehr sensibel sind, ist die Lautstärke des Weinens für sie oft schwer zu ertragen. Dann helfen Ear Plugs, die die Geräuschkulisse reduzieren. Trotzdem kann andauerndes Schreien Eltern an ihre Grenzen bringen.
Können sich Eltern Hilfe holen?
Das kann klappen. Wenn das Baby ein Elternteil dem anderen sehr vorzieht, kann es schon hilfreich sein, Aufgaben innerhalb der Familie neu zu verteilen. Dann bringt eine Person das Baby ins Bett und die andere erledigt in der Zeit den Haushalt. Auch Familienmitglieder wie die Großeltern können eine wertvolle Hilfe sein. Diese Unterstützung haben aber leider nicht alle Familien.
Wird das Leben mit sensiblen Kindern denn mit der Zeit einfacher? Oder nur anders?
Sensible Babys bleiben im Grundtemperament auch sensible Kinder und Erwachsene. Aber: Sie lernen im Laufe der Zeit wichtige Regulationsstrategien. Und die können Eltern ihnen beibringen und vorleben. Wann genau der Alltag dann aber entspannter wird, ist ganz individuell.
Ist diese Sensibilität vielleicht auch eine Stärke?
Absolut! Diese Kinder sind sehr feinfühlig und erleben die Welt mit allen Sinnen. Sie sind kreativ und können oft sehr gut für sich und ihre Bedürfnisse einstehen, sie hinterfragen und sind sehr kompetent. Die Unterstützung der Eltern ist hier ganz wichtig. Sie müssen die Grenzen ihres Kindes stärken und ihm zeigen: Du bist gut, so wie du bist!