
Sehen lernen: Das solltest du wissen
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Lena Opderbeck ist im letzten Jahr zum zweiten Mal Mutter geworden. Sie arbeitet bereits seit 14 Jahren als Orthoptistin und behandelt Patienten von Jung bis Alt.
Wie entwickelt sich das Sehvermögen deines Babys in den ersten Monaten und Jahren? Im Gespräch mit Orthoptistin Lena Opderbeck erfährst du, welche Meilensteine typisch sind, worauf Eltern bei möglichen Auffälligkeiten achten sollten – und wie eine Untersuchung in der Sehschule abläuft.
Lies hier, was du wissen solltest, um die Sehentwicklung deines Kindes bestmöglich zu begleiten und bei Bedarf frühzeitig handeln zu können.
Lena, was macht eine Orthoptistin eigentlich genau? Und worin unterscheidet sie sich vom Augenarzt?
Orthoptistinnen arbeiten überwiegend in Sehschulen. Wir behandeln Erwachsene, zum Beispiel aufgrund von Schielen, erworbenen Doppelbildern und astehnopischen, also unspezifischen, Augenbeschwerden. Hauptsächlich sehen wir in den Sehschulen aber Kinder, meist aufgrund eines Schielens und/oder einer Sehschwäche. Unser Schwerpunkt ist die Diagnostik: Liegt ein Brillenbedarf vor? Können wir das Schielen behandeln oder nicht? Wir arbeiten auch therapeutisch, zum Beispiel mit der Pflastertherapie.
Geht das dann ganz ohne Augenarzt?
Nein, wir arbeiten immer mit einem Augenarzt zusammen. Die Augenärzte stellen die Brillenrezepte aus, schließen eine organische Ursache für ein Schielen oder eine Sehschwäche aus, etwa ob ein Grauer Star oder ein frühkindlicher Tumor die Symptome verursacht. Es ist immer wichtig, auch den Augenhintergrund zu kontrollieren und mögliche Veränderungen auszuschließen. Wenn Patienten bei uns zu regelmäßigen Kontrolle aufschlagen, schaut der Augenarzt in der Regel einmal im Jahr den Augenhintergrund mit an.
Wie entwickelt sich denn das Sehen bei Babys im 1. Lebensjahr?
Neugeborene sehen vor allem Kontraste und Konturen. Sie sehen in einer Entfernung von 20 bis 25 cm am besten, ansonsten eher schemenhaft. Ab der Geburt erkennen sie Lichtquellen und beginnen ihnen hinterherzusehen. Mit 3 Monaten können Babys langsam räumlich sehen. Ihre Sehschärfe nimmt zu und damit auch ihre Sehweite. Sie fangen an, den Blickkontakt zu halten und nehmen mehr Farbtöne wahr. Mit etwa einem halben Jahr greifen sie gezielt, sehen alle Farben und ihre Reichweite wird beim Greifen und Entdecken immer größer. Man geht davon aus, dass Kinder zum 1. Geburtstag ungefähr 50% der Sehschärfe von Erwachsenen haben.
Und welche Anzeichen können auf eine Sehstörung hindeuten?
Das kommt ganz auf das Alter an. Bei Neugeborenen ist es auffällig, wenn sie nicht auf Lichtreize reagieren oder ihnen nicht nachsehen und wenn sie in den ersten 3 Lebensmonaten keinen Blickkontakt halten und scheinbar durch die Eltern hindurchsehen. Mit 6 Monaten sollten Eltern stutzig werden, wenn das „Babyschielen“ nicht ab- oder sogar zunimmt, wenn das Kind konsequent danebengreift oder gar kein Interesse an Greifen oder Objekten hat. Mit 7 bis 9 Monaten können Babys normalerweise fremde und bekannte Gesichter gut unterscheiden. Stellen Eltern fest, dass ihr Kind sich eher an Stimmen orientiert und ihr Gesicht nicht von anderen unterscheiden kann, ist auch das ein Hinweis für eine mögliche Sehstörung.
Und bei Kleinkindern?
Kleinkinder mit Sehproblemen vermeiden oft Tätigkeiten im Nahbereich oder haben dabei keine Ausdauer. Sie malen zum Beispiel nicht gern, basteln nicht, bauen keine Türme und machen ungern Puzzles.
Was sind denn die häufigsten Sehstörungen bei kleinen Kindern?
In unserer Praxis sehen wir häufig Kinder mit starker Weitsichtigkeit, Kurzsichtigkeit, Hornhautverkrümmung oder einem Schielen. Häufig treten diese auch kombiniert auf. Und ein großer Teil hat schon eine sogenannte Amblyopie: Dann ist ein Auge sehr viel schwächer als das andere. In dem Fall kommt die bekannte Pflastertherapie zum Einsatz: Man klebt mit dem Pflaster das stärkere Auge ab, damit das schwächere wieder aktiviert wird.
Wann sollten Eltern das Sehvermögen überprüfen lassen?
In unserer Praxis empfehlen wir Eltern, mit ihrem Kind mit 1, 3 und 6 Jahren in die Sehschule zu gehen. Das Sehen ist einfach so wichtig für die allgemeine Entwicklung: krabbeln, gehen, greifen. Wenn man Sehstörungen hier übersieht, kann die Entwicklung in anderen Bereichen sehr darunter leiden. Mit 3 Jahren arbeiten Kinder bei der Untersuchung schon gut mit und können richtig antworten. Das macht es sehr viel leichter und wir können das erste Mal einen sehr zuverlässigen Sehtest machen. Wenn jetzt etwas festgestellt wird, kann man noch rechtzeitig eingreifen. Mit 6 Jahren lohnt sich eine Untersuchung, damit eine Sehschwäche nicht das Mitkommen in der Schule gefährdet.
Was hat das denn für Folgen, wenn eine Sehschwäche erst spät erkannt wird?
Wenn Kinder erst im Schulalter zu uns kommen, ist die Therapie oft sehr viel schwieriger. Eine Pflastertherapie ist dann oft nicht mehr so gut möglich: Sie möchten das Pflaster in der Schule nicht gern tragen und wenn das gute Auge abgedeckt ist, ist es auch für die Kinder sehr anstrengend, in der Schule am Ball zu bleiben. Es würde sehr viel Energie kosten mit z.B. nur 10% Sehkraft dem Unterricht zu folgen. Man muss auch wissen: Wenn Kinder erst einmal 8 bis 10 sind, dann ist die Sehentwicklung so gut wie abgeschlossen und die Therapie bringt kaum noch was. Je jünger sie sind, desto besser ist das Gehirn ansprechbar auf die Therapie.
Also am besten mit 1, 3 und 6 Jahren in die Sehschule schicken?
So empfehlen wir es. Frühchen sollten auf jeden Fall im 1. Lebensjahr schon in eine Sehschule kommen. Zwillinge gern um den 1. Geburtstag herum, weil auch sie ein erhöhtes Risiko für Sehschwächen haben. Wenn beide Eltern eine hohe Fehlsichtigkeit haben oder es Schielerkrankungen in der Familie gibt, dann würde ich auch immer empfehlen, die Sehstärke des Kindes abklären zu lassen. Und immer: Wenn Eltern ohnehin mit einem Kind kommen und wir einen auffälligen Befund haben, dann am besten direkt das Geschwisterkind mit anschauen lassen.
Gibt es denn lange Wartezeiten?
Das ist regional verschieden. Bei uns muss man etwa 4 bis 5 Monate einplanen – außer es ist ein Notfall wie z.B. plötzliches eintretendes starkes Schielen, dann muss es sofort angeguckt werden. In Hamburg ist die Situation aber generell noch besser als in anderen Bundesländern. Wir haben auch Patienten aus Berlin und Brandenburg, weil es dort fast unmöglich ist, einen Termin zu bekommen.
Also lieber früher kommen als zu spät. Gibt es denn auch Fälle, in denen Eltern unnötigerweise zu euch kommen?
Oft schicken Kinderärzte Babys pauschal zu uns, wenn beide Eltern eine Brille tragen. Das macht aber nur Sinn, wenn wirklich eine hohe Fehlsichtigkeit vorliegt. Wenn beide Eltern z.B. durch viel Bildschirmarbeit eine Kurzsichtigkeit entwickelt haben, hat das Kind kein erhöhtes Risiko für eine angeborene Sehstörung. Dann reicht es auch, wenn die Kinder erst mit 1 Jahr zur normalen Kontrolle zu uns kommen. Manchmal scheint es auch nur so, dass Babys schielen, dabei tun sie es gar nicht.
Was heißt das: Es scheint nur so?
Babys haben in der Regel eine sehr flache Nase und dadurch einen leichten Epikanthus. Das ist eine sichelförmige Hautfalte am inneren Randwinkel des Auges. Das Schielen ist dann nur eine optische Täuschung. Eltern können das sogar überprüfen und mit z.B. der Taschenlampe ihres Handys bei geradem Blick in beide Augen leuchten: Dabei sieht man dann einen kleinen Lichtreflex, den Hornhautreflex. Das ist ein kleiner heller Punkt im Auge, also die Spiegelung des Lichts. Er ist nicht ganz mittig in der Pupille zu sehen, sondern in beiden Augen leicht nasal versetzt. Ein Schielen liegt vor, wenn Reflexe nicht identisch liegen.
Und Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt reichen als Kontrolle nicht aus?
Kinderärzte machen nicht immer Sehtests. Bei Babys machen sie den sogenannten Brückner-Test. Da leuchten Sie auf den Augenhintergrund und schauen, ob es einen Anhaltspunkt für ein Schielen, eine einseitige Sehschwäche oder für einen frühkindlichen Tumor im Auge gibt. Später können sie mit einem Screeninggerät Fehlsichtigkeiten grob ausschließen oder entdecken. Das Gerät misst die Werte des Auges und gleicht ab, ob diese altersentsprechend sind oder nicht. Bei vielen Ärzten kostet diese Untersuchung aber Geld. Einige Kinderärzte schicken Kinder bereitwillig in Sehschulen, andere sind da eher zögerlich. Wichtig für Eltern: Man benötigt für eine Sehschule nicht zwingend eine Überweisung. Wenn Eltern also über längere Zeit ein schlechtes Gefühl haben und eine Sehstörung vermuten, dann sollten sie auch ohne Go vom Kinderarzt zu uns kommen.
Wie können sich Eltern einen Besuch in der Sehschule vorstellen?
Gerade bei sehr kleinen Kindern arbeiten wir meist nach dem Ausschlussverfahren. Wir überprüfen verschiedene Dinge mit kleinen Fingerspielzeugen, Lampen oder Geräten. Das setzt sich dann wie ein Puzzle zusammen und wir können eine gute Diagnostik machen. Die Kinder machen das meist gut mit. Wir haben auch mehr Zeit als Augenärzte, etwa 15 min pro Termin. Wir müssen uns also nicht so hetzen. Wenn Kinder gar nicht mitmachen möchten, können wir ihnen etwas Zeit geben oder Folgetermine vereinbaren, damit sie sich an uns gewöhnen. Dann ist die Untersuchung oft schon beim 2. oder 3. Termin kein Problem mehr. Das ist aber nicht in allen Sehschulen möglich.
Können Eltern das Sehvermögen denn auch fördern?
Eigentlich entwickelt sich das Sehen ganz von allein, wenn es die richtigen Anreize gibt. Babys freuen sich über Kontrastbücher oder Kontrastkarten und auch über knallige Farben. Aber auch für Kleinkinder sind kräftige Farbe noch wichtig. Ich rate daher immer ab, alles in Pastelltönen zu kaufen oder ein Kinderzimmer nur in Beigetönen einzurichten. Ich verstehe, dass Eltern kein knallbuntes Plastikspielzeug mögen. Aber auch Holzspielzeug gibt es in wirklich schönen, kräftigen Farben. Und die sind genau das Richtige für Kinder, damit sich das Sehen gut entwickeln kann.