
Große Gefühle: Was hinter der Trotzphase steckt
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Ceren Palik ist M.Sc.-Psychologin und angehende Theraplay-Therapeutin mit langjähriger Erfahrung in der Arbeit mit Familien und Kitas. Als Mutter von zwei kleinen Kindern befindet sie sich derzeit in Elternzeit. Parallel entwickelt sie in Berlin ein bindungsorientiertes Präventionsprogramm für schwangere Frauen und Mütter, mit dem Ziel, ihre emotionale Stärke, elterliche Kompetenz und soziale Verbundenheit nachhaltig zu fördern.
Plötzliche Wutanfälle, große Gefühle und tägliche Konflikte um Kleinigkeiten – viele Eltern erleben das rund um den 2. Geburtstag. Was steckt dahinter? Und wie lassen sich Kinder in dieser Zeit gut begleiten? Wir haben mit Psychologin Ceren Palik über diese herausfordernde Phase gesprochen.
Mit etwa 18 Monaten beginnen Kinder, auf scheinbare Kleinigkeiten mit großer Wut und viel Frust zu reagieren. Was passiert da genau?
Kinder entdecken jetzt ihr eigenes Ich. Sie haben eigene Vorstellungen und wollen diese umsetzen – stoßen dabei aber oft an Grenzen: motorisch, sprachlich oder durch Regeln. Wenn das „Ich will“ auf ein „Ich kann noch nicht“ oder „Ich darf nicht“ trifft, entsteht Frust. Und der entlädt sich.
Diese Zeit ist oft auch als „Trotzphase“ bekannt – im Englischen nennt man sie die „Terrible Twos“. Das klingt sehr negativ – ist es das auch?
Was nach Trotz aussieht, ist in Wirklichkeit der gesunde Aufbau von Selbstständigkeit, Selbstvertrauen und Identität. 1,5 Jahre haben Kinder sich die Welt in Ruhe angesehen und beobachtet. Jetzt möchten sie mitgestalten, Entscheidungen treffen, Einfluss nehmen. Das ist ein Zeichen inneren Wachstums und ganz normal. Diese Zeit ist lebendig und herausfordernd zugleich – für das Kind und für die Eltern. Aber am Ende gehen beide ein Stück gewachsen daraus hervor. Eigentlich könnte man sie lieber die „Ich werde ich und das ist ganz schön anstrengend für uns alle“-Phase nennen.
Warum sind Kinder in diesem Alter denn so oft so wütend – was geht in ihnen vor?
Das Gehirn von Kindern entwickelt sich noch. Man kann sich das ein bisschen wie in einem Freizeitpark vorstellen, der gerade gebaut wird: Die Achterbahn der Gefühle ist fährt: und sie fährt! Rasant, bunt, wild. Das Gefühlssystem ist also schon aktiv, aber der präfrontale Cortex, der die Gefühle reguliert, ist noch im Aufbau. Das macht es schwer, mit Frust und Wut umzugehen.
Und was brauchen Kinder dann?
Vereinfacht gesagt: Sie brauchen einen Erwachsenen mit einem fertigen Gehirn. Jemanden, der ihnen hilft, mit ihren Gefühlen fertig zu werden und sie immer besser zu steuern. Einen Erwachsenen, der ihnen mit der eigenen inneren Ruhe hilft, wieder zur Ruhe zu kommen. Diese unterstützende Begleitung nennt man Co-Regulation.
Was können Eltern denn tun, wenn ihr Kind sehr wütend ist? Was kann zum Beispiel helfen, wenn die Banane abgebrochen ist und das Kind deshalb einen Wutanfall bekommt?
In stressigen Momenten reagieren wir oft automatisch – so, wie wir es selbst erlebt haben. Das kann gut sein – oder auch nicht. Ich empfehle dieses Bild: Wenn jemand im Meer untergeht, springen wir nicht hinterher, sondern bleiben am Ufer und werfen einen Rettungsring. Genau so ist es mit starken Gefühlen wie Wut oder Frust: Das Kind wird davon überflutet, es kann sich in diesem Moment nicht selbst regulieren. Was es braucht, ist nicht, dass wir mit untergehen oder mitschreien, sondern eine ruhige, stabile Hand.
Eltern sollten ihrem Kind also einen sprichwörtlichen Rettungsring zuwerfen?
Ganz genau. Das gelingt nicht immer, aber man kann es versuchen. Eltern sollten probieren, nicht in die Wut des Kindes einzusteigen. Denn dann werden sie schnell selbst wütend und alle schaukeln sich gegenseitig hoch. Am besten ist es, ruhig und in einfachen, klaren Worten mit dem Kind zu sprechen, zum Beispiel: „Ich bin da, du bist hier sicher.“ Manchmal ist auch Stille besser als viele Worte – in der akuten Wut kommt eh kaum etwas an.
Oft hat man ja das Gefühl, das Kinder nimmt einen gar nicht mehr wahr.
Das stimmt. Deshalb ist es oft besser, erst im Nachgang zu sprechen. In einem ruhigen Moment kann man die Situation nochmal aufgreifen: „Du warst wütend, weil die Banane abgebrochen ist.“ So lernen Kinder, ihre Gefühle zu benennen. Meinen Sohn frage ich nach einem Gefühlssturm gern: „Brauchst du jetzt Liebe oder Platz?“ So kann er selbst entscheiden, ob er gern kuscheln und gehalten werden möchte, oder lieber einfach mit etwas anderem weitermachen will.
Das hilft ihnen sicher auch für die Zukunft, oder?
Ja. Sie erfahren: Gefühle sind okay. Und man kann lernen, damit umzugehen – mit Unterstützung. Wir sind Vorbilder: Wenn wir sagen "Ich bin genervt, ich atme jetzt tief durch." – dann lernen Kinder: Auch große Gefühle lassen sich regulieren. Spielerische Rituale wie Wut-ins-Kissen-Boxen oder ein Wut-Tanz können ebenfalls helfen.
Helfen denn in dieser Zeit klare Grenzen oder sollten Eltern möglichst viel Freiheit lassen?
Beides. Klare Grenzen geben Halt. Freiheiten dazwischen geben Mitgestaltung. Wichtig ist, dass Grenzen nicht willkürlich sind. Wenn das Kind haut, darf ich sagen: „Ich lasse mich nicht hauen.“ Gleichzeitig sollte es aber auch Bereiche geben, in denen das Kind mitentscheiden darf. So erlebt das Kind: "Ich werde gehört. Ich bin wirksam." Wenn Eltern im Alltag ständig nur Nein sagen, ist das für Kinder sehr frustrierend und Machtkämpfe sind an der Tagesordnung.
Zurück zur Banane: Das Kind ist wütend, weil sie abgebrochen ist. Gebe ich ihm eine neue? Oder gilt: Entweder du isst die oder eben keine?
Beides ist möglich. Ich würde die Gefühle des Kindes erst einmal in Worte fassen: „Dir gefällt jetzt gar nicht, dass die Banane kaputt ist. Die sieht jetzt nicht mehr schön aus.“ Damit erkenne ich die Gefühle an. Dann kann ich versuchen, das Ganze humorvoll zu wenden, indem ich ein lustiges Gesicht mache: „Auweia, ist die Banane jetzt aber hässlich. Ojemine! Was machen wir denn da? Lass mich mal probieren, kann man die denn noch essen?“ Das darf gern bewusst albern sein.
Woran sieht man denn, ob Kinder gut durch diese Phase kommen?
Erst einmal: Wut, Frust und auch Trotz gehen ja nicht wieder weg. Diese Gefühle bleiben. Wichtig ist, wie Kinder mit ihnen umgehen können. Dass dieser Lernprozess stattfindet, sieht man zum Beispiel daran, dass ein Kind nach einem Wutanfall schneller wieder runterkommt und Kontakt sucht, also zum Beispiel die Hand nimmt oder kuscheln möchte. Später finden Kinder Worte für ihre Gefühle oder sogar eigene Lösungen, um gut durch die Situation zu kommen.
Wie können sich Eltern regulieren, wenn sie sich von den ständigen Konflikten erschöpft oder überfordert fühlen?
Eltern möchten es oft besonders gut machen – besser als sie es vielleicht selbst erlebt haben. Doch das kann ganz schön anstrengend sein. Es muss nicht immer perfekt laufen. 3 gut begleitete Wutanfälle am Tag sind schon viel. Für den 4. darf auch mal keine Kraft mehr da sein.
Ich selbst sage in solchen Momenten zu meinem Kind: „Ich brauche einen Moment, ich bin gleich wieder da.“ Dann gehe ich kurz raus, atme tief durch oder trinke ein Glas Wasser. Das ist ehrlich und zeigt meinem Kind, dass auch Erwachsene Grenzen haben. Genau das ist ein starkes Vorbild.
Am Ende geht es ja allen Eltern ähnlich.
Absolut. Aber kaum jemand spricht darüber. Ich erinnere mich an eine Situation in der Straßenbahn – mein Kind hatte einen langen Wutanfall und ich fühlte mich hilflos. Dabei bin ich Psychologin. Aber das ist der Punkt: Diese Momente sind menschlich. Wenn wir offener damit umgehen würden, könnten wir viel voneinander lernen und solche Situationen normalisieren. Dann würden wir sehen: Es geht uns ja allen so. Dann entwickeln wir auch weniger unrealistische Erwartungen an uns selbst.
Und das könnte helfen?
Definitiv. Dann wäre es uns in der Öffentlichkeit vielleicht nicht so unangenehm, wenn unser Kind gerade große Gefühle durchmacht. Und es würde uns auch helfen, realistisch zu bleiben und nicht zu hart mit uns ins Gericht zu gehen. Stattdessen lieber Pausen im Alltag einplanen und den Austausch mit anderen suchen. Denn: Niemand muss das alles allein schaffen. Nur wer gut für sich sorgt, kann auch gut für andere da sein.
Was würdest du gern allen Eltern raten, die gerade in dieser Phase stecken?
Wenn sich alles wie ein einziger Machtkampf anfühlt, hilft oft schon ein kleiner Perspektivwechsel: Weniger kämpfen, mehr mitentscheiden lassen. Auch kleine gemeinsame Momente tun gut, zusammen lachen, Quatsch machen oder ein Buch lesen. Wenn die Verbindung stark ist, gibt’s weniger Streit. Und wenn du merkst, du kommst nicht weiter: Hol dir Unterstützung, bei Partner:innen, anderen Eltern oder Beratungsstellen. Es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Fürsorge, für dich und dein Kind.